Mit spitzer Feder …
Letztes Jahr floss der Alkohol trotz oder gerade wegen Corona in rauen Mengen. Konkret waren es letztes Jahr in der Schweiz 11,5 Liter Alkohol pro Kopf, was ungefähr 2,4 Flaschen Wein oder 4,4 Liter Bier pro Woche und Person ab 15 entspricht. Das ist mehr als die OECD-Länder im Schnitt. Die wenigsten Alkohol-Konsumierenden hinterfragen ernsthaft ihren Konsum. Man googelt höchstens mal ab wie viel Gläser man alkoholabhängig ist. Im Grunde will man allerdings nur eine Bestätigung dafür, dass man kein Problem hat und einfach weitertrinken kann – zu verlockend ist die legale Droge. Viele Leute verbinden Alkohol mit Freiheit, mit Spass, mit Sex – das ist Bullshit, aber die meisten glauben das, weil sie von Jugend an damit gebrainwasht werden. In Serien, Filmen, der Werbung: Überall werden diese untrennbaren Bilder von Alkohol und Genuss vermittelt. Wir bewegen uns in einer promillegewohnten Gesellschaft. Ich, die keinen Alkohol trinkt – nie – gelte nach wie vor als suspekt. Wer verzichtet, muss sich erklären: Bist du schwanger? Geht es dir nicht gut? Denn als «normal» gilt beispielsweise das Komasaufen bei den Jungen. Der Aperitif im Restaurant, der Wein zum Hauptgang, der Sekt mit den Freundinnen, das Bier zum Feierabend oder zum Fussballmatch. Und Trinken ist lustig. Zu Beginn der Pandemie sorgten «Wine Moms», also beschwipste Mütter, mit Youtube-Videos für Heiterkeit und Déjà-vus. Dies ist meines Erachtens allerdings weder besonders amüsant, noch geistreich.
Alkohol bedeutet für viele: Feierabend, Ferien, Freiheit, Loslassen, Genuss, Kultur. Mit einem Glas Wein oder Bier in der Hand fühlen sich die meisten Menschen immer sicherer – sicherer im Umgang mit anderen, selbstbewusster im Auftreten, attraktiver, wortgewandter, gesprächiger – etwas, was sie in nüchternem Zustand vor allem vor Fremden nicht sind. Ich kann es schwer nachvollziehen, weil ich für ein sicheres Auftreten keinen Alkohol benötige, höchstens ein kurzes Stossgebet. Alkohol gibt einen kleinen, angenehmen Kontrollverlust und Witz. Wir leben in einer Kultur, in der Alkohol fest verankert ist. Der Konsum von Alkohol wird überall verteidigt: «Ein Gläschen Wein ist gut fürs Herz.» Suchtprävention versickert irgendwo zwischen «Geht mich nichts an» oder «jaja, ich weiss schon.» Doch Alkohol verursacht mehr Todesfälle als Medikamente und illegale Drogen zusammen – 8,4 Prozent aller Todesfälle. Alkohol ist eine abhängig machende Substanz. Jeder Kater ist das Zeichen einer Alkoholvergiftung. Jedes Glas ist schädlich. Alkohol ist ein Zellgift, das sich über die Blutbahnen im ganzen Körper verteilt und kurz – wie langfristig Auswirkungen auf Psyche und Physis hat. So hemmt Alkohol etwa die Wahrnehmung von Gefühlen – darum hilft ein Glas Wein so rasch, wenn es emotional schlecht geht. Alkohol hemmt aber auch die guten Gefühle, zerstört mit der Zeit Mut und Selbstvertrauen. Aber – wenn die Gesellschaft ganz selbstverständlich trinkt – kann man das gut verdrängen! Ist die körperliche und seelische Abhängigkeit erst einmal da, ist Trinken eine Sucht, die gestillt werden muss – oder die Entzugserscheinungen werden gefährlich. Kürzlich habe ich in einer Tageszeitung gelesen, dass seit Corona viel mehr gravierende Leberschäden behandelt werden – und diese auch bei jungen Menschen. Das hat mich sehr bedenklich gestimmt!
Doch es gibt zunehmend eine Kehrtwendung «Sober Curious» nennt sich der Trend zur Abstinenz: nüchtern, neugierig. Eine hierzulande wenig bekannte Bewegung. Das Nicht(mehr)trinken ist dabei, sich zum neuen Lifestyle zu entwickeln. Da ist etwa der sogenannte «Dry January», ein Fastenmonat für Alkohol, der 2014 in Grossbritannien lanciert worden ist, und in immer mehr Ländern auf der Agenda steht – dieses Jahr auch zum ersten Mal in der Schweiz. Überall entstehen alkoholfreie Bars wie die Listen Bar in New York, Brewdog AF in London etc. Die erste alkoholfreie Bar in der Schweiz ist die Verbena-Bar auf dem Bürgenstock. Es gibt alkoholfreien Gin, Wein und immer mehr Biere – Brauhäuser und Spirituosenhersteller lassen sich einiges einfallen, um den seit Jahren rückgängigen Alkoholkonsum in der Schweiz abzufangen. Es wäre einen Versuch wert – denn Sie haben bestimmt mehr vom Leben, ohne Alkohol: guten Schlaf, Joggen am Morgen im taufrischen Wald, einen klaren Kopf, mehr echte positive Gefühle. Körper, Geist und Seele harmonieren miteinander, ohne das Zellgift, verbunden mit dem grossen Universum – das ist tausend Mal besser als jeder Rausch! Probieren Sie es aus!
Herzlichst,
Ihre Corinne Remund
Verlagsredaktorin