Medizinisches Nähkästchen
Geschätzte Leserinnen und Leser
Unser Gesundheitssystem droht finanziell zu kollabieren. Es wurden wieder Steigerungen der Kosten prognostiziert, obwohl kürzlich von einer Prämienreduktion die Rede war. Die Gesellschaft ist hoffnungslos mit der Problematik überfordert. Nur durch den Beitrag jedes Einzelnen und der Mithilfe aller Player im Gesundheitswesen kann die vielschichtige Herausforderung angegangen werden.
Auf einen Aspekt davon möchte ich anhand eines Beispiels eingehen.
Ich durfte einen guten Freund von mir behandeln: Es erfolgte eine reguläre Operation an der Hand und – was auch bei Patienten, die Freunde sind, vorkommen kann – es ist nach der Operation zu einer Infektion gekommen. Wir zwei haben dann mit vereinten Kräften gemeinsam die Infektion mit Tabletten und Ruhigstellung zu behandeln versucht, was aber nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat. Eine weitere Operation wurde dringlich notwendig. Bei dieser zweiten Operation musste ich die Hand des Patienten vollständig öffnen. Die gesamte Handfläche vom Mittelfinger bis zum Handgelenk lag wie ein offenes Buch da!
Solche Operationen führen im weiteren Heilungsverlauf leider regelmässig zu massiven Verklebungen und Narbenverhärtungen. Dies wiederum verursacht Schmerzen und deutliche Beweglichkeitseinschränkungen. Es entwickelt sich ein Gefühl, als ob dieser Teil der Hand aus einem Stück Holz bestehen würde.
Aber: Man kann diesem Zustand aktiv entgegenwirken. Wenn die Narbe regelmässig massiert wird und der Patient den Finger – auch wenn dies Schmerzen verursacht – intensiv bewegt, so sind die Chancen für ein gutes Resultat gegeben. Ist der Patient, die Patientin hingegen passiv, lässt sich lediglich durch die Ergotherapie behandeln und unternimmt zwischen den Therapiesitzungen selbst nichts, so ist ein schlechtes Resultat vorprogrammiert.
Leider traten bei meinem Freund eben solche Narbenverhärtungen auf. Er hatte Schmerzen, konnte den Finger nicht gut bewegen und die Handfläche war steinhart. Es liegt aber ganz und gar nicht in seiner Natur, einen solchen Zustand zu akzeptieren. Er hat selber begonnen, die Narbe zu massieren, seinen Finger zu bewegen, zu drücken, zu kneten und zu dehnen. Dies selbst unter Schmerzen, nötigenfalls unter Einnahme von Schmerzmitteln! Mit Beharrlichkeit wurden der Finger und die Hand trainiert. Um seine Aussage zu wiederholen: «Dieser Finger macht mit mir nicht was er will, sondern ich mache mit ihm das, was ich will.»
Anfänglich hatte ich sogar Mühe, den Patienten von der Arbeit abzuhalten. Bereits am Tag nach der Operation wollte er wieder zur Arbeit, was dann wohl doch zu schnell gewesen wäre. Nach wenigen Tagen war jedoch auch das möglich. Dank seiner Mitarbeit war das Operationsgebiet nach rund einem Jahr sehr schön und weich abgeheilt. Der Patient arbeitet seit langem wieder völlig normal bzw. viel zu viel.
Dieses Beispiel zeigt, in welchem Ausmass das persönliche Engagement zum guten Heilungsverlauf beiträgt. Man würde sich wünschen, dass die Selbstverantwortung durch die Patienten viel öfter wahrgenommen würde. Das fängt bei der Kommunikation mit dem behandelnden Arzt an: «Was kann – was darf ich machen? Was kann ich selbst zu meinem Heilungsprozess beisteuern?» Einige tun das von sich aus – was mich bei meinen Patienten immer sehr freut – leider immer noch viel zu wenige!
Bei den Patienten ist es auch nicht anders als bei uns Ärzten – es gibt die Anständigen und die, die es halt nicht sind! Mit der Einstellung: «Ach mach mich doch gesund», strecken Letztere die Hand einfach hin und lassen den Physio- bzw. den Ergotherapeuten oder den Arzt alleine schaffen. Unter welchen Vorwänden auch immer, tragen sie nur wenig zu ihrer Genesung bei, was zu einer viel längeren Arbeitsunfähigkeit, zu einem schlechteren Resultat und allenfalls sogar zu einer Teilinvalidität führen kann.
Aus ärztlicher Sicht ist es noch interessant, wenn nicht sogar amüsant, welche Argumente vorgebracht werden, warum gerade bei dem Betreffenden die Heilung «ganz anders» verläuft als dies üblich wäre. Manchmal sogar in der überzeugten Meinung, dass der Arzt den wahren Grund «schon nicht merkt». (Anmerkung: es gibt übrigens eine ganze Anzahl von Untersuchungen und Tricks, mit denen man den Patienten «überführen» kann und welche uns eindeutig Aufschluss darüber geben können, ob und wieviel die oder der Betroffene mitmacht – nur sagen dürfen wir leider nichts, denn eine «Unterstellung» müsste man erst einmal beweisen, obwohl wir es eigentlich ganz genau wissen!)
Welche gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen dies nach sich zieht, ist sich der Patient, die Patientin, gar nicht bewusst. In der Gesamtheit sind dies enorme Beträge, welche schlussendlich durch die Allgemeinheit abgedeckt werden müssen. Eigentlich steht, ebenso wie der Arzt und der Arbeitgeber, eben auch der Patient moralisch in der Pflicht, sein Möglichstes zur Kostenreduktion beizutragen.
Natürlich kann man nicht jeden Fall und alle Patienten über den gleichen Kamm scheren. Es ist völlig klar, dass je nach Krankheitsbild und je nach Verlauf Unterschiede bestehen und ein gewisser Ermessensspielraum zweifelsfrei vorhanden ist. Jedoch ist es für jeden zumutbar, im Rahmen seiner Möglichkeiten, durch eine aktive Mitarbeit nicht nur den eigenen Gesundheitszustand zu verbessern, sondern somit auch die Kosten zu reduzieren.
Leider kennen wir auch viele Fälle, bei denen der passive Patient ständig, z.T. nicht nachvollziehbare Beschwerden hat (Schmerz ist leider nur äusserst schwierig objektivierbar), invalid wird, eine Rente bekommt und sich’s dann gut gehen lässt! – auf Kosten der Allgemeinheit. Hierbei stört mich am meisten, dass unter solchen Umständen schlussendlich der Engagierte und Ehrliche der Angeschmierte ist!!
Fairerweise muss ich anfügen, dass es aber auch sehr viele Leute gibt (wie das Beispiel oben zeigt), welche motiviert und vorbildlich mitmachen. Diese kehren viel schneller und mit einem deutlich besseren Resultat wieder in den Arbeitsprozess zurück. Die Zufriedenheit und die Lebensqualität dieser Patienten stehen in keinem Vergleich zum schlechten Beispiel.
Man darf in der Betrachtung den Mensch mit der Gesamtheit seiner charakterlichen Vielfalt nicht ausser Acht lassen. Wenn jemand anständig ist, so bleibt er das auch wenn er ein gesundheitliches Problem hat, und wer stets nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht, rücksichtslos usw. ist, bleibt dies ebenso. Darauf haben wir leider von aussen keinen Einfluss und selbstverständlich schlägt sich dies auch in der persönlichen Haltung zum Heilverlauf nieder.
Fazit: Um unser fantastisches, weltweit führendes Gesundheitswesen aufrecht erhalten zu können, möchte ich jede und jeden von uns motivieren, den gesunden Menschenverstand walten zu lassen, die Verantwortung für sich selbst, in Zusammenarbeit mit Arzt, Therapeuten und selbst mit dem Arbeitgeber, zu übernehmen und schlussendlich die Voraussetzungen zu schaffen, damit wir weiterhin das für jedermann zugängliche, medizinische Sahnehäubchen der Welt bleiben können.
Dr. med. Voja Lazic
Präsident VABP
Vorstandsmitglied SBV/ASMI